Insolvenzrecht – Überschuldung bei kurzem rechnerischen Negativsaldo und Verlustdeckungszusage

„1.
Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen eines Unternehmens nicht mehr die bestehenden Verbindlichkeiten deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Dabei sind nicht die fortgeschriebenen Wertansätze der Jahresbilanz als entscheidend zugrunde zu legen, sondern eine Überschuldungsbilanz hat nach eigenen, auf den Zweck der Insolvenzeröffnung zugeschnittenen Bewertungsgrundsätzen, den wahren Wert des Unternehmens zu ermitteln. Legt der Insolvenzverwalter nur eine Handelsbilanz vor, aus der sich ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag ergibt, hat er jedenfalls die Ansätze dieser Bilanz darauf zu überprüfen und zu erläutern, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang stille Reserven oder sonstige aus ihr nicht ersichtliche Vermögenswerte vorhanden sind.

2.
Eine Überschuldung ist nicht anzunehmen, wenn eine tatsächliche rechnerische Überschuldung zwar am Bilanzstichtag am Jahresende vorliegt, jedoch zu Beginn des neuen Jahres der Minusbetrag durch eine Zahlung wieder ausgeglichen wird. Denn eine Überschuldung liegt bei einem nur für wenige Tage bestehenden Negativsaldo nicht vor. Bei einer Überschuldung muss es sich um einen zumindest für sechs Wochen andauernden Zustand handeln.

3.
Gegen die Annahme einer Überschuldung spricht auch eine Verlustdeckungszusage des Mutterkonzerns. Eine Pflicht zur Verlustübernahme ergibt sich auch aus einer aus Kontoauszügen hervorgehenden finanziellen Verstrickung an einer sonstigen Abhängigkeit von Schwester und Mutterunternehmen, sodass es sich um einen faktischen Konzern handelt.“

OLG Schleswig-Holstein, Urteil vom 29.09.2021 – 9 U 11/21

Hintergrund

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der A-GmbH. Er nimmt den Beklagten aus Geschäftsführerhaftung wegen Zahlungen nach Insolvenzreife in Anspruch. Erstinstanzlich hat der Kläger den Beklagten teilweise gesamtschuldnerisch auf Zahlung von insgesamt 720.758,17 € in Anspruch genommen. Das LG hat die Klage abgewiesen. Der Beklagte war faktischer und ab dem 25.01.2010 auch eingetragener Geschäftsführer der Schuldnerin, die auf ihrem im Eigentum der BRD stehenden, von der Firma C-GmbH angemieteten Geschäftsgrundstück einen Handel mit Paraffin betrieb. Für die Lagerung des flüssigen Paraffins in den Tanks war dessen vorherige Erhitzung erforderlich. Die Schuldnerin war Teil eines Konzerns, der neben ihr aus der Muttergesellschaft A-Holding AG und der Schwestergesellschaft A. C. AG, beide mit Sitz in der Schweiz, bestand. Die A-Holding AG war alleinige Gesellschafterin der Schuldnerin und der A. C. AG. Der Beklagte war Präsident des Verwaltungsrates sowohl der A. C. AG als auch der A-Holding AG und war zu 54 % am Kapital der A-Holding AG beteiligt.

In der Nacht vom 11.06.2009 auf den 12.06.2009 zerstörte ein Großbrand den gesamten Betrieb der Schuldnerin. Die Schuldnerin unterhielt bei der D Versicherungs AG unter anderem eine Betriebshaftpflichtversicherung mit einer Höchstdeckungssumme von 2,5 Million €. Die Versicherung lehnte die Erteilung einer Deckungszusage ab, da seit dem Jahr 2006 als Risiko lediglich die Abwicklung des Handels mit Paraffin zur Kerzenproduktion versichert sei, sich bei dem Brand jedoch das Risiko eines Produktions- oder Veredelungsbetriebs nicht eines Handelsbetriebs verwirklicht habe. Die Schuldnerin nahm nach dem Brand ihren Betrieb nicht wieder auf. Auf den Antrag des Beklagten vom August 2010 wurde im November 2010 über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger hat behauptet, die Schuldnerin sei bereits im Jahr 2008, spätestens aber seit dem Brandereignis im Jahr 2009 überschuldet gewesen. Der Beklagte hat behauptet, die BRD und die Firma C hätten bis zur Stellung des Insolvenzantrags keine konkreten Forderungen wegen der Brandschäden an die Schuldnerin herangetragen. Im Übrigen sei das Risiko durch die Versicherung der Firma C abgedeckt gewesen.

LG weist Klage ab

Das LG hat die auf Zahlung gerichtete Klage abgewiesen, da der Kläger weder die Überschuldung noch eine Zahlung der Schuldnerin zur Überzeugung des Gerichts habe darlegen und beweisen können. Insbesondere sei das Indiz der rechnerischen Überschuldung aufgrund der Fehlbeträge in den Jahren 2008 und 2009 durch die konzerninterne Verlust-Deckungszusage der A-Holding AG gegenüber der Schuldnerin widerlegt. Auch das Brandereignis habe nicht zu einer Überschuldung geführt, da nicht feststellbar sei, dass der BRD durch den Brand tatsächlich Schäden von über 2,5 Million € entstanden wären und Schäden bis zu dieser Höhe von der Versicherung der Schuldnerin gedeckt gewesen seien.

OLG bestätigt Urteil des LG

Nach Ansicht des OLG hat das LG die geltend gemachten Ansprüche des Klägers gegen den Beklagten aus Geschäftsführerhaftung zurecht zurückgewiesen. Dem Kläger stehen als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin keine Ersatzansprüche gegen den Beklagten aus Geschäftsführerhaftung nach § 64 S. 1 GmbHG a. F. u. Eine Ersatzpflicht des Beklagten für von ihm veranlasste Zahlungen kommt nach § 64 S. 1 GmbHG in Betracht, wenn diese nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet wurden, ohne dass die Zahlungen mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar wären.

Anhaltspunkte für eine Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Zahlungen wurden vom LG zu Recht verneint. Eine Überschuldung ist also bei kurzem rechnerischen Negativsaldo und Verlustdeckungsanzeige noch nicht gegeben.

Als Geschäftsführer einer GmbH ist es immens wichtig, die Zeichen einer sich anbahnenden finanziellen Krise zu erkennen und umgehend Gegenmaßnahmen einzuleiten.

 

Rechtsanwalt Manuel Ast